Der Turm (1)
von Marsimoto, 07.02.2008 - 15:42 – Fiktion
Shinka, der blutgetränkte Turm (Shinka, the Bloodsoaked Keep) war einst das prachtvollste und bedeutendste Gebäude, welches die Goblins ihr Eigen nannten. Seit er vor vielen Jahrzehnten von Slobad, dem besten Handwerker und Architekten, den das Volk der Goblins jemals hervorgebracht hatte, zum Gedenken an den damals gerade verstorbenen König erbaut worden war, thronte er da, wie ein stummer Wächter. Er gab den Goblins eine innere Sicherheit, die sie sich nicht erklären konnten. Das hielten sie auch nicht für nötig. Goblins redeten nicht über Gefühle, außer vielleicht über ihren Zorn - im Grunde hatten sie auch keine weiteren.
Auch wenn sie die ärgste Folter niemals dazu gebracht hätte es zuzugeben, liebten sie dieses Gebäude, liebten es in Ehrfurcht vor der Vergangenheit - jedenfalls diejenigen, die ihn zu Gesicht bekommen hatten.
Shinka stand auf einem Felsen, einige Meilen vor dem großen Gebirge (Mountain), in dem die meisten Goblins zu Hause waren. Seine Lage war sehr günstig gewählt worden (ein weiterer Beweis der Fähigkeiten Slobads, des sogenannten Kesselflickers) nämlich innerhalb einer breiten Schlucht im Berg, die allgemein die Greifenschlucht (Griffin Canyon) genannt wurde. Zwar lebten hier seit Jahrzehnten keine Greifen mehr, doch Goblins waren eben praktisch veranlagt und dachten lieber über Raubzüge nach, als über Ortsbezeichnungen. Die Schlucht, deren Seitenwände von rötlichem Gestein waren, war ein unebenes Gebiet aus Schutt und Geröll und in ihrer Mitte weitete sie sich zu einem kreisrunden Platz aus - der blutgetränkte Platz. Und wiederum in dessen Mitte, auf einer kleinen Anhöhe, befand sich der Turm, der gleichzeitig das Grab eines längst vergessenen Königs war.
Staub wirbelte unter den groben Lederstiefeln des jungen Goblins namens Kerog hervor, als er den beschwerlichen Pfad entlangstapfte. In diesem Augenblick war seine Laune so mies, dass es kaum schlimmer sein konnte. Er hätte Lust zu toben und ein paar Leute umzubringen, er wollte endlich raus aus dieser Hitze, die schon einige Wochen andauerte. Höhnisch schien die Sonne gleich noch ein bisschen heißer vom makellos blauem Himmel herab, so kam es ihm vor.
Und er konnte noch lange nicht nach Hause, in seine schattige Höhle.
Er musste weiter, zu diesem Turm, den er einmal unbedingt sehen gewollt hatte, Squee verdamme es. Unbewusst benutzte er (wie viele Goblins) eine Redensart, die ihm in einem früheren Zeitalter, als Squee tyrannischer Alleinherrscher war, seinen hässlichen, grünen Kopf gekostet hätte.
Er hob diesen und als er sah, dass sein Lehrmeister schon weit voraus war, legte er schweren Herzens einen Zahn zu. Seinetwegen würde er sich lieber die Füße wundlaufen, bis sie nicht mehr als solche zu erkennen sein würden, als von dem Alten abgehängt zu werden. Er verspürte eine bittere Bewunderung für ihn, denn er schien überhaupt keine Anstrengung zu verspüren. Kerog dagegen rann der Schweiß ins Sturzbächen am nackten Oberkörper herunter.
"Er ist ja auch verdammter Schamane!", sagte er, als wollte er sich bei sich selbst entschuldigen. Ja, aber du willst es auch sein, richtig?
Die Stimme aus seinem Inneren klang spöttisch, es war die Stimme des Alten.
"Halt's Maul!", erwiderte Kerog in einem Tonfall, der einem trockenen Bellen ähnelte und die Stimme tat sogar, was für ihren Besitzer unvorstellbar gewesen wäre - sie gehorchte.
Jedenfalls für eine Weile.
Wie automatisch tat er jetzt seine Schritte, während er sich nicht zu ersten Mal wünschte, ganz normal zu sein. Nicht schlauer zu sein als der ganze dumpfe, nasebohrende Haufen Goblins, die jetzt wahrscheinlich in ihren kühlen Behausungen auf weichen Fellen lagen und sich Kaninchenfleisch schmecken ließen. Dumm, grün und agressiv, wie es sich für einen richtigen Goblin gehört; so wollte er sein.
Aber das Schicksal war nicht zu ändern, wie der Alte manchmal sagte. Das Schicksal war unergründlich, grausam, eine höhere Gewalt - doch vor allen Dingen unveränderlich und das war es, was seine Schrecklichkeit ausmachte. Und der Alte hatte wie immer Recht.
Ein fester Schlag auf den Hinterkopf riss Kerog abrupt aus seinen Überlegungen. Er sah erschrocken auf und da stand der Alte, seinen Stab mit dem Totenkopf an der Spitze in der Hand und über das ganze schakal-ähnliche Gesicht grinsend.
"Wach auf, du Tagträumer! Glaubst du, deine Feinde nehmen Rücksicht auf dein Bedürfnis auf ein Mittagsstündchen? Hm, was glaubst du, Bursche?", sagte er höhnisch und seine grünen Falten und Hautlappen bebten vor Schadenfreude.
"Ähm..", machte Kerog und rieb sich den Kopf, der wirklich verteufelt weh tat.
"Nein!", brüllte der Lehrmeister beinahe und versprühte eine ansehnliche Menge Speichel. "Er wird dich packen und dir deinen nutzlosen Kopf abschlagen, du Made! Er wird dir deine Kehle durchschneiden und dann in dein Haus gehen und es deiner Frau und deinen Kindern ebenso machen! Er wird dein Volk vernichten! Du verdammter Träumer!"
Diese altbekannte Schreierei unterstrich er mit rythmischem Klopfen seines Stabendes auf den steinernen Boden.
"Kannst du diese Verantwortung auf dich nehmen? Kannst du das, Junge?"
"Nein", sagte Kerog leise. Seine Wut war Furcht gewichen, so wie es immer war. Der Schamane hatte eine Aura, die selbst die gezüchteten Muskelwunder weiche Knie bekommen ließ, und sie dazu brachte, auf alles was der Alte sagte mit "Jawohl!" zu antworten und wegzurennen, wenn sie entlassen waren.
"Hmm...", machte der Schamane und seine gelben Augen wurden zu Schlitzen. Er schien ihn zu durchleuchten, mit diesem starren, gruseligen Blick.
Kerog versuchte ihn standhaft zu erwidern, doch er scheiterte scheinbar so kläglich, dass der Alte anfing zu lachen. Es hörte sich an wie Hochbetrieb in einem Sägewerk.
"Du hast eine verdammt amüsante Visage, das muss man dir lassen, Schüler. Hehehe! Ich will dir dieses kleine Schläfchen einmal durchgehen lassen, aber nur weil ich keine Lust verspüre, dich zu bestrafen. Aber merk dir: Heute keinen Fehltritt mehr, Bursche! Nicht den geringsten! Ist das klar?"
"Ja", sagte Kerog kleinlaut. Trotz der überhöhten Temperaturen war ihm eiskalt geworden, als der Schamane diesen Blick aufgesetzt hatte. Es hatte sich angefühlt, als wäre er splitternackt und der Schamane betrachtete mit höchster Sorgfalt jeden Zentimeter von ihm - nur eben in seinem Geist.
"Nun, dann wenden wir uns doch dem zu, weswegen wir gekommen sind; dem blutgetränkten Turm."
Vor lauter Wut und Anstrengung - die gleichermaßen Kraft gekostet hatten - hatte der Schamanenlehrling Kerog gar nicht bemerkt, dass sie am Ziel angekommen waren. Das erste was er fühlte war eine große Erleichterung. Endlich hatte das ewige Gehen ein Ende, er hatte es geschafft. Vor ihm lag der blutgetränkte Platz, ein großer, mit rotem Sand bedeckter Kreis, innerhalb der riesigen Felswände - und nun wusste Kerog, dass der Name nicht willkürlich gewählt worden war. Über die ganze Fläche verteilt, als hätte eine riesige Hand sie aus dem Himmel gestreut, standen blutbespritzte Opferaltare, die meist von Leinenzelten umgeben waren. Auf manchen lagen noch die Schafs- oder Ziegenkadaver, die zu Ehren Thra'tez' ganz nach Goblinart regelrecht zerfleischt worden waren. Kerog erinnerte sich an etwas, das der Alte ihm einmal mit verdrießlicher Miene erzählt hatte. Es war anlässlich der öffentlichen Opferung gewesen, die im Vergleich hierzu geradezu sanft vor sich ging.
"Diese törichten Dummköpfe", hatte er geknurrt. "Sie leben im Lande des großen Thra'tez, fressen das Fleisch, das uns Thra'tez beschert und schlagen ihre Höhlen in den Berg des Thra'tez. Trotzdem haben sie ihn vergessen, trotzdem haben sie die Furcht vor ihm verloren. Warum opfern sie diese Viecher? Sie sagen, um den Großen zu ehren. Doch keiner von ihnen denkt auch nur mit einem Bruchteil seines mickrigen Hirns an ihren Schöpfer. Die Wahrheit ist, dass sie die Rituale aus purer Mordlust durchführen. Schau dir sein dummes Gesicht nur an, wie es glänzt vor Wonne!"
Ein Goblin, den Kerog nicht kannte, hatte gerade theatralisch das Beil gehoben, dessen Klinge schon das Blut tausender Tiere getrunken hatte, und grinste von einem spitzen Ohr zum anderen. Das Schaf auf dem Altar hatte dämlich in den Tag hinein geblökt, bevor die Klinge niedersauste und säuberlich Kopf von Rumpf trennte. Kerog hatte sich damals gefragt, was denn der Unterschied von den städtischen Opferungen zu denen der Schamanen sein sollte - doch jetzt verstand er es. Hier auf dem Platz sahen die Altare irgendwie heilig aus. Sie hatten etwas, das sie zu mehr machte, als gewöhnlichen Steinplatten. Selbst das Blut, dass von ihnen hinabrann, schien mit jedem Tropfen den Großen zu preisen.
Fortsetzung folgt
9 Kommentare
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#1 – Durin kommentiert: | 07.02.2008 - 16:16 Uhr |
WOW!
Hast du das wirklich selbst geschrieben? Das ist mit Abstand das Beste was bis jetzt in der Leseecke erschienen ist. Ich freue mich wirklich schon auf die Fortsetzung, denn du schreibst so, mir fehlen die Worte dafür. Ich bin wirklich überwältigt, Daumen hoch!
Ja selbst geschrieben. Dankeschön.
#3 – Potti kommentiert: | 07.02.2008 - 17:21 Uhr |
Ja, die Geschichte ist in der Tat sehr gut.
Aber ich hab auch etwas zu bemängeln.
Anfangs schreibst du:
"Goblins redeten nicht über Gefühle, außer vielleicht über ihren Zorn - im Grunde hatten sie auch keine weiteren.
"
Aber gleich im nächsten Satz wiedersprichst du dir selbst:
"...liebten sie dieses Gebäude..."
Also können sie nur den Zorn zeigen und lieben das Gebäude gar nicht wirklich, oder war das mit dem Zorn gelogen?
Ja, du hast Recht. Asche auf mein Haupt.
Aber selbst Gott macht Fehler, schau dich an!
kleiner Scherz^^
#5 – Durin kommentiert: | 07.02.2008 - 18:59 Uhr |
Mann, Potti, jetzt muss doch kommen: "Ja, als er an mir gearbeitet hat, hat er gerade dein Hirn gesucht!"
zum Glück hat er es dann doch noch gefunden
gut gemacht
#8 – Durin kommentiert: | 08.02.2008 - 12:40 Uhr |
Staub wirbelte unter den groben Lederstiefeln des jungen Goblins namens Kerog hervor, als er den beschwerlichen Pfad entlangstapfte.
Allein der Satz schlägt alles hier in der Leseecke.
*Auszeichnung + richtiges Hirn überreich und das ausversehen eingebaute Hundehirn mitnehm*
*in Durins Lob ertrink*
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