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Der Turm (2)

von Marsimoto, 13.02.2008 - 21:01 – Fiktion

Und da war er. Shinka, der blutgetränkte Turm (Shinka, the Bloodsoaked Keep), der einzige Tempel des Volkes der Goblins. Ein Ort der Mythen und Legenden, ein Zeitzeuge, der niemals Zeugnis ablegen würde. Und er war magisch, Kerog spürte wie die Luft pulsieren und eine seltsames Gefühl des Glückes durchströmte ihn.
Der Turm war nicht hoch, es war sogar streitbar, ob man ihn überhaupt als Turm bezeichnen konnte, und er auch nicht besonders prunkvoll. Es war ein hölzernes Gebäude mit einem annähernd quadratischen Grundriss, doppelt so hoch wie breit und von altertümlicher Architektur. Hätte Kerog es auf einer Abbildung gesehen, hätte er sich gefragt, was daran so besonders sein sollte. Das war wahrscheinlich der Grund, warum keine Bilder davon existierten, dachte er, während er seinem Lehrmeister über den großen Platz folgte. Man musste ihn sehen, um seine Macht zu erkennen.
Sie passierten einige Zelte und blutige Altare und wurden weder von den scheinbar uralten Schamanen, noch von den bulligen Wachposten aufgehalten, die in den kleinen Zeltlagern herumlungerten. Immer geradewegs auf das Felsplateau zu, den Sockel des Heiligtums, wie der Alte ihn nannte. Kerog spürte wie die Macht mit jedem Schritt stärker wurde, er konnte sie monoton summen hören, wie eine lästige Stechmücke - bloß war dieses Geräusch nicht lästig, sondern schön, geradezu herrlich. Kerogs eingeschränkte Wahrnehmung, die größtenteils auf den Turm gerichtet war, reichte aus, um beiläufig zu registrieren, dass die Müdigkeit von ihm gewichen war. Und seltsamerweise erschien ihm das logisch, als wäre es zu erwarten gewesen.
Kerog glaubte jetzt zu wissen, warum die Goblins diesem Ort eine derart hohe Bedeutung zuschrieben. Er ließ die Dinge, die man vorher für so wichtig gehalten hatte, in seinem Licht verblassen. Damals, als der Alte ihm davon erzählt hatte, hatte er nicht verstanden, was diese "Gesänge der Kami" sein sollten - jetzt wusste es. Es war das Licht, dieses Licht, das scheinbar seinen Verstand erhellte und ihn schärfte, wie die Krieger ihre Schwerter vor der Schlacht.
Meister und Schüler waren am Fuß des Sockels angekommen und der Alte kratzte sich mit einem seiner langen, gelblichen Fingernägeln am fliehenden Kinn. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert, so wie es Kerog noch nie gesehen hatte. Das erste Mal schaute ihn der gefürchtete Alte ernsthaft und ohne eine Spur von Verachtung an, und auch seine sonst so kratzige, irgendwie furchteinflößende Stimme klang feierlich als er sprach: "Wir sind da, Kerog. Nun wirst du die letzte Stufe deiner Ausbildung absolvieren, der Schritt der dich zum Schamanen machen wird. Bist du bereit?"
Hat er mich wirklich gerade beim Namen genannt? Ja, das hatte er. Und Kerog wurde bewusst, dass dies wohl einer der wichtigsten Tage seines ganzen Lebens war. Kaum zu glauben wie dumm er gewesen war, wie er die Bedeutung dieser ganzen Ausbildung verkannt hatte, bis zu diesem Moment. Er fühlte sich wie ein Blinder dem das Augenlicht geschenkt wurde und schämte sich, sodass er am liebsten im Erdboden versunken wäre. Trotzdem leuchteten vier strahlende Worte in seinem Verstand auf, sie schienen die einzigen wahren Worte zu sein, die überhaupt existierten.
"Ja, ich bin bereit!" Unerwartet klang seine Stimme zuversichtlich und fest, ganz anders als er sich fühlte. Seine Knie waren weich und er war ausser Atem, als wäre er gerannt. Er vermutete, dass dies wohl die Folgen einer Offenbarung waren - und er hatte zweifelsohne gerade eine erlebt.
"Nun, dann wollen wir loslegen", sagte der Alte und schwang seinen Stab zum Aufbruch. Kerog folgte ihm unsicheren Schrittes.

Der runde Sockel des Heiligtums wies insgesamt vier Möglichkeiten auf zum Turm zu gelangen - vier in den Fels gemeißelte Treppen, deren makellose Vollkommenheit von meisterhaftem Handwerk zeugte. Keine einzige Unebenheit war zu entdecken, die Oberflächen der Stufen waren so glatt, dass Kerog befürchtete darauf auszugleiten - und doch boten sie einen sicheren Stand. Nie hätte er gedacht, dass es Vergnügen bereiten könnte eine Treppe zu erklimmen. Er hatte vieles bis zum heutigen Tage niemals gedacht, doch an diesem Ort schienen die Spielregeln anders zu sein. Hier konnte ein Sandkorn die Schönheit eines funkelnden Rubins besitzen und umgekehrt, es war einfach so, nicht zu hinterfragen wie ein Naturgesetz.
Es liegt an den Kami.
Kerog hatte keinen Schimmer woher er das wusste, doch es war eine unumstößliche Tatsache. Und er wusste auch, dass er sich gerade auf dem Weg zu den Kami befand, anders konnte es nicht sein. Die Urgeister, die Seelen längst vergessener Helden, deren Körper längst zu Asche geworden waren. Kerog verspürte eine gewisse Furcht, die daher rührte, dass er nicht im Geringsten wusste was er zu erwarten hatte; und gleichzeitig freudige Erregung darüber, dass er auserwählt worden war. Dass er, Kerog, bald ein Schamane sein würde, Diener des blutgetränkten Tempels und seines gesamten Volkes. Eine böse Stimme in ihm meldete sich. Was ist wenn sie deine Zweifel von vor einigen Stunden erkennen? Was ist, wenn sie wissen, dass du jahrelang blind gewesen bist - genauso dumm und verblendet wie all die anderen Goblins, gegenüber denen du dich für so überlegen hältst? Was ist dann, alter Kumpel? Du kannst jemanden, der deine Gedanken besser kennt als du selbst, nicht belügen. Er wusste es nicht. Doch er wusste, dass es nun kein Zurück mehr gab. Jetzt ging es aufs Ganze, alles oder nichts, denn die Entscheidung war gefallen. Und er würde seinen Mann stehen, er würde die Begegnung erhobenen Hauptes durchstehen. Was hatte er auch zu verlieren, außer seinem Leben, dass, wenn er die Prüfung oder was immer ihn erwartete nicht bestehen würde, sowieso scheinbar perspektivlos wäre? Gar nichts. Absolut nichts. Mit diesem Gedanken, der natürlich unsinnig war, wischte Kerog seine Zweifel energisch beiseite und erhöhte sein Tempo ein wenig.

Innerhalb des Turmes erwartete ein körperloses Wesen den kleinen Goblin schon. Es verspürte eine leichte Belustigung anhand der Gedanken, die er empfing seit der Kleine den heiligen Platz betreten hatte. Hätte es einen Mund gehabt, hätte es gelächelt. Es spürte, dass sich dieser Kleine von den anderen Lehrlingen unterschied; er war viel feinfühliger und intelligenter. Aus diesem Kerlchen könnte noch etwas werde, auch sein Lehrmeister wusste das. Das erste Mal seit einigen Jahren war der Geist des blutgetränkten Turms wirklich gespannt und lehnte sich zurück, um die Ankunft des Alten und seines Schützlings zu erwarten. In der Zwischenzeit unterhielt er sich mit den Gedanken Kerogs, der gerade die letzte Stufe erklomm und das Tor des blutgetränkten Turmes zum ersten Mal zu Gesicht bekam.




Fortsetzung folgt



3 Kommentare

#1Marsimoto   kommentiert:  13.02.2008 - 21:03 Uhr

Habe einen Fehler entdeckt: Der Turm war nicht hoch, es war sogar streitbar, ob man ihn überhaupt als Turm bezeichnen konnte, und er auch nicht besonders prunkvoll.

Bitte ein "war" dazwischen denken ;-)

#2Durin    kommentiert:  14.02.2008 - 19:53 Uhr

Geil! Einfach nur geil. Die Geschichte ist fast noch besser als die erste! Ich freue mich jetzt schon auf die nächste! Ich finde wirklich, dass deine Texte hier mit Abstand die besten sind. RESPEKT!{+}{+}{+}

#3Marsimoto   kommentiert:  14.02.2008 - 20:47 Uhr

Jetzt ist es aber genug, ich werd ja schon ganz rot ^^


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